Herausforderungen der Zeitwahrnehmung bei neurodivergenten Menschen

Ist nicht ganz ernst gemeint, kommt aber meiner Realität sehr nahe. „Du brauchst mehr Struktur. Du solltest dir eine To-Do-List und sonstige Reminder (Erinnerungen) erstellen.“ Ach nee, wäre mir gar nicht in den Sinn gekommen. Diese ewig guten Ratschläge – die auch ich gerne Betroffenen gebe – gehen mir so auf den Keks. Ich habe bestimmt alle gängigen Listen, Apps und sonstigen Schnickschnack zur Unterstützung meiner täglichen Routinen ausprobiert. Mein neurodivergentes Gehirn macht sich einen Spaß daraus, mir alle zu vermiesen und alle Hilfsmittel – außer meinen Terminkalender – ad absurdum zu führen. Ich hatte zeitweise so viele Apps, die mir den Alltag vereinfachen sollten, dass ich zuletzt nicht mehr wusste, welche denn nun wofür funktioniert und welche nicht. Zum guten Schluss habe ich alle in die Tonne gekloppt, sprich gelöscht.

Aber nun zurück zur Zeitblindheit. Mein Sohn, selbst ADHSler, gibt mir häufig den Rat, mir einen Timer zu stellen, was ich genauso häufig vergesse. Bei den neurodivergenten Kindern, die ich betreue, funktioniert das erstaunlich gut – bei mir nicht. Das heißt in der Praxis, dass die Kinder wenn der Timer piepst, wissen dass Schluss ist, ich aber in zwei von drei Fällen vergessen habe, ihn überhaupt zu stellen. Das ist wahrscheinlich der Altersstarrsinn und die innere Ablehnung gegen die Ausführung externer Vorgaben. Freiheit über alles.

Nun mal im Ernst

Zeitblindheit ist ein ernstzunehmendes Phänomen bei ADHS. Ist jemand zeitblind, dann kann diese Person Zeit nicht als solche wahrnehmen, geschweige denn einschätzen. Die innere Uhr bzw. das eigene Zeitgefühl kann dann komplett fehlen, als wäre sie ausgeschaltet. Von Zeitblindheit betroffene Personen kommen immer wieder zu spät zu Terminen, was damit zusammenhängen kann, dass sie z.B. den Weg zu einem Termin oder die verbleibende Zeit bis zum Termin falsch einschätzen. Sie sind immer unter Druck, aber niemals pünktlich. Ich habe im Laufe der Jahrzehnte die Strategie entwickelt, immer zu früh zum Termin zu erscheinen aus Angst zu spät zu kommen.

Die Dauer von Tätigkeiten können nicht oder nicht richtig eingeschätzt werden. Die Zeit rinnt ihnen quasi durch die Finger. Wechsel zwischen verschiedenen Aufgaben fällt schwer. Probleme mit dem Zeitmanagement: Betroffene können ihre Zeit nicht effektiv nutzen, weil sie z.B. die Länge von Aufgaben nicht richtig bzw. gar nicht einschätzen können. Prioritäten setzen oder einen Timetable umsetzen, fällt damit ebenfalls weg. Das führt wiederum zu Terminschwierigkeiten bzw. erhöhten Druck, doch noch etwas erledigen zu können. Damit eng verknüpft schwankt die eigene Arbeitsleistung. Man kann über längere Zeit nur wenig erledigen, dann aber auf einmal Gas geben, um dann wieder die Zeit aus den Augen zu verlieren. Da Zeit nicht richtig eingeschätzt werden kann, führt das u.U. zum Aufschieben einer Aufgabe (Prokastination). Zumindest wirkt das nach außen hin so.

Es gibt wohl einen Zusammenhang zwischen den kognitiven Prozessen und den exekutiven Funktionen des Gehirns. Zeitblindheit ist jedoch keine echte Erkrankung, also medizinisch nicht richtig diagnostizierbar oder im ICD aufgeführt. Es ist eher ein umgangssprachlicher Begriff für dieses Phänomen. Fakt ist jedoch, dass sie häufig bei ADHS auftritt (ist sogar ein Kriterium für die Diagnose). Allerdings kann sie auch u.a. bei Autismus-Spektrum-Störungen, Angstzuständen, Zwangsstörungen oder Depressionen eine Begleiterscheinung sein.

Und nun?

Nicht immer ist Zeitblindheit gleichzusetzen mit mangelndem Zeitmanagement. Wäre es “nur” Zeitmanagement, dann könnte die betroffene Person durchaus etwas dagegen unternehmen. Ist sie aber tatsächlich von Zeitblindheit betroffen, dann muss sie, um in unserer Gesellschaft zu überleben, entsprechende Maßnahmen treffen. Diese können sein: Das Tragen einer Uhr und das Stellen mehrerer Alarme im Tagesverlauf, das Einplanen von Pufferzeiten und das Aufteilen von Aufgaben in mehrere kleine Abschnitte, die Planung relegelmäßiger Pausen und – ganz wichtig – das offene Gespräch mit dem Umfeld suchen. Wenn andere wissen, wo die Schwächen liegen, können sie besser damit umgehen.



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